Ein Zoo halbvergessener Schauobjekte


EIN ZOO HALBVERGESSENER SCHAUOBJEKTE.
SIEBEN GRÜNDE, SICH DARIN GENAUER UMZUSEHEN.

Von Karin Leonhard

1 Flüssigkeiten

Sieht man sich in Nikola Irmers neuesten Arbeiten um, diesem Zoo halb vergessener Schauobjekte, so mit dem Gefühl, dass die Zeit im Bild nicht angehalten, sondern dass darin nur jede Bewegung verlangsamt wurde. In den Konservierungslösungen schwimmen Frösche, Echsen, ein Chamäleon mit kurzen ausgreifenden Gliedmaßen und eingerollten Schwänzen, oder vielmehr schweben sie in fast embryonaler Haltung schwerelos an uns vorbei. Ein Rochen steigt entlang der Glaswand auf, das wirkt für einen Moment ebenso unheimlich wie komisch, denn er erinnert uns an einen Astronauten, der vor dem Bullauge eines Space Shuttles auftaucht und sein SOS funkt, bevor er wieder in die Tiefe des Weltraums weggerissen werden wird.
Science fiction also? Ein wenig davon gibt es hiervon tatsächlich, weil die gezeigten Objekte und die gesamte Erzählung der Naturgeschichte von der Malerin durch ein verdickendes und verlangsamendes Medium geschickt wurden, das uns diese zwar weiterhin präsentiert, aber doch gleichzeitig verfremdet. Wie durch ein dickes Glas oder eine zähe Flüssigkeit gesehen, beginnen die farbigen Eindrücke zu verschwimmen, die Oberflächen klebrig zu werden und die Geräusche nur mehr gedämpft nach außen zu dringen. Derart betäubt, beginnt auch jeder wissenschaftliche Sprachduktus zu erlahmen, denn was lässt sich sagen angesichts der unhintergehbaren Dinglichkeit des Dargestellten? Wie eine Glocke legt sich das liquide Medium über die Gegenstände, und mehr noch, es dringt in sie ein und durchtränkt sie vollkommen. Langsam gerinnt eine Welt der lebendigen naturalia zur bewegungslosen Welt der nature morte, und sie tut dies, und das ist der medientheoretische Clou bereits der ersten Bilderserie, nicht nur auf der Ebene des Gegenständlichen, sondern noch einmal auf der Ebene der Malerei selbst.
Halten wir deshalb gleich zu Anfang fest: In Irmers neuesten Arbeiten geht es um MEDIEN – zum einen um so transparente und semi-transparente Medien wie das Formalin, der Alkohol oder die Gießharze der Schaugefäße, in denen die Tierpräparate aufbewahrt werden. In ihnen wird etwas sichtbar gemacht und sogar bewusst zur Schau gestellt, aber es wird darin auch etwas verhüllt und verunklärt. Das ist die eine Aufbewahrungstechnik im Bild, zum anderen aber fungiert die Farbe selbst als ein solches konservierendes Medium; ja, man könnte sagen, dass die Gegenstände zum zweiten Mal darin eingelegt werden. Langsam sinken sie in deren zähe Konsistenz oder sie werden mit flüssigen Pinselstrichen darin eingebettet. Zuweilen ist die Form der Objekte über keine Konturlinie mehr gegeben, und es wird nur noch Pinselstrich an Pinselstrich oder Farbfeld an Farbfeld gesetzt. In gegensätzlicher Geste zum szientistischen Zugriff schärfen diese Bilder also nicht unseren Blick auf die Naturwelt, sondern sie trüben ihn ein und geben der Tatsache Rechnung, dass unser Auge zunächst einmal selbst ein feuchtes, semi-transparentes Organ ist, und nicht nur ein sezierendes Erkenntniswerkzeug. In einer solchen Ambivalenz zwischen Transparenz und Opazität vollzieht sich im Weiteren jede Bildbetrachtung. Was einmal Tier war, wird zum naturwissenschaftlichen Objekt, genauer, es wird zu einem Flüssigkeitspräparat, das abgestellt auf Regalen oder in Schränken ein halb vergessenes Dasein fristet. Nun findet es sich ein zweites Mal aufbewahrt im Farbcontainerraum der Malerei wieder. Denn wenn Irmer die Präparate ans Licht rückt, dann ist das in erster Linie grandiose Farbmalerei.
Angesichts der wahrscheinlich berühmtesten Darstellung eines „Flüssigkeitspräparats“ der Kunstgeschichte, Chardins Stilleben mit Olivenglas, hat Denis Diderot (1713-1784) einmal das Zusammenspiel zwischen trockener Materie, Luft und Licht bewundert, das ihn dazu brachte auszurufen: „Dieses Porzellangefäß ist wirklich aus Porzellan. Diese Oliven sind vom Auge wirklich durch die Flüssigkeit getrennt, in der sie schwimmen. (…) Dieser Mann versteht die Harmonie der Farben und der Reflexe. O Chardin, das ist nicht weiße, rote und schwarze Farbe, die du auf deiner Palette zerreibst; das ist die eigentliche Substanz der Gegenstände, das ist die Luft und das Licht, die du mit der Spitze deines Pinsels aufnimmst und auf die Leinwand überträgst.“ Bei Irmer ist es nun nicht mehr die Luft, das Licht und das pulverisierte Pigment, die auf der Leinwand zu Äquivalenten der Gegenstandswelt aufgebaut werden, sondern es ist das feuchte Medium selbst, das in groben Zügen kraftvoll zusammengestrichen wird, um zu Objekten in Raum und Zeit zu gerinnen. Zwar drohen diese auch immer davonzugleiten, ihre Konturen zu verlieren, aufzuweichen oder sich gänzlich aufzulösen, aber sie sind mit den Stilleben Chardins, des Magiers der toten Dinge, durchaus verwandt im Geiste, denn beide bespielen das Terrain substantieller Farbmalerei. Nicht zu vergessen, dass es auch von Chardin einen glasig wirkenden Rochen gibt, aus dessen aufgeschlitztem Bauch Innereien quellen – eine Tour de force der Nass-in-Nass-Malerei, welche schon seine Zeitgenossen beeindruckte.

2 Folien

Die Darstellung flüssiger Medien beschäftigt die Malerin, aber auch die Luft nimmt in ihren Arbeiten die Rolle eines Leitmotivs ein, zumindest indirekt. Schon die konservierenden Flüssigkeiten haben sich direkt um die Körper gelegt und dabei den Luftraum ersetzt. Die Konservierungslösungen fungieren sozusagen als Ersatz für das Fluidum der Luft, so als sei der Sauerstoff flüssig geworden und drohe nun umgekehrt, die Organismen zu ersticken.
Ähnlich beklemmend legen sich in einer neuen Bilderserie transparente Folien ausgerechnet über die zoologisch prominentesten Vertreter des Luftraums – die Vögel. In den Sammlungen dienen die Folien dazu, das feine Gefieder vor Staub zu schützen, sie dienen also der konservatorischen Protektion der Schauobjekte. Im Bild erscheinen sie dagegen irritierend, d.h sie wirken wie künstlich eingeschobene Sichtbarrieren, die kristalline Formationen aufwerfen, zwischen denen die einzelnen Spezies wie eingefroren sitzen. In dieser Welt des Kristalls, in der die Luft knapp geworden ist, blitzt ab und an das strahlende Blau einer Meisenhaube auf oder das gelbe Brustgefieder eines Vogelpärchens, das sich wie in einem künstlichen Dickicht gefangen sieht. In letzterem Beispiel hat es für einen Moment den Anschein, als verfüge das Dickicht noch über eine Öffnung, also einen Ausweg, und wir blickten von einer Seite wie in eine Höhlung hinein. Im nächsten müssen wir jedoch erkennen, dass dies eine Täuschung ist und sich die Farben und Formen der Vögel nur deshalb so klar abzeichnen, weil sich die Folie besonders eng über die Körper gelegt hat. Interessant ist, dass den Tieren angesichts der beklemmenden Situation eine eigene Lebendigkeit zukommt, beispielsweise ist das so mit dem kleinen Maulwurf, der sich gerade aufgrund des Foliengrabs, das sich um ihn legt, wehrhaft aufzubäumen scheint. Zuweilen kann sich das Verhältnis sogar umdrehen, dann nämlich, wenn man das Gefühl hat, als nutzten die Tiere den verbleibenden Sauerstoff und atmeten noch einmal tief ein und aus, so dass die Folien begännen, sich knisternd zusammenzuziehen oder auszuweiten. Wie stark beschleicht einen dann der Wunsch, ihnen die Luft nicht weiter abzudrücken, und wie nahe am Rand der Animation erscheinen dann diese ausgestopften Kreaturen! Versuchsweise kann man die Bilderreihe deshalb die Schneewittchen-Serie in Irmers zoologischem Kabinett nennen. Sie zeigt allesamt atmende Geschöpfe, freiheitlich, voll Farbe und Poesie, die den giftigen Apfel verschluckt haben. Wird aber einmal am gläsernen Sarg gerüttelt, wie in dieser Malerei hier, so erwachen sie zu neuem Leben.

3 Kästen

Wir haben bislang über Flüssigkeiten und Folien als transparente, konservierende Medien gesprochen, nur im metaphorischen Sinne waren diese zuweilen zu gläsernen Särgen geworden. Es gibt in Irmers Werk aber auch tatsächliche Glaskästen. Sie dienen der Zurschaustellung der Ausstellungsobjekte ebenso wie dem konservatorischen Schutz: „Die Aufbewahrung wider Motten und Pelzkäfer geschieht am sichersten in einzelnen Glaskästen“, kann man schon in den frühen Ratgebern zur Tierpräparation nachlesen. „Frei aufgestellt verderben sie Staub und Insekten, die man durch keine Mittel, außer dem öftern Ausklopfen, Abstäuben und Bestreuen mit Kampfer, sicher abzuhalten weiß.“ Aber natürlich ist klar, dass die Schaukästen in ihrer musealen Aufreihung auch der klassifikatorischen Einordnung naturwissenschaftlicher Sammlungen nützlich sind.
In einer neuen Bilderreihe erfahren wir deshalb mehr von den offiziellen und semi-offiziellen Orten der Zurschaustellung der Tierpräparate - im zoologischen und naturwissenschaftlichen Museum Lo Specola in Florenz beispielsweise, wo Irmer sich 2010 und 2013 aufhielt, oder in den Museen für Naturkunde in Berlin, Oxford, Leyden, Wien oder dem Naturkundemuseum in Gotha, deren Sammlungen sie zwischen 2008 – 2015 besucht hat. Zu sehen sind erneut vor allem Vögel, und in welcher Vielfalt marschieren sie nun auf: Straußenvögel und Pinguine, Störche, Kraniche und Reiher, Eulen und Finken bevölkern die Schaukästen, in bunter Varietät und mit geplustertem Gefieder. In Florenz wurden die „struzzi“ gesichtet – eine ganze Straußenfamilie, deren Aufmarsch von Irmer in vier Gemälden festgehalten wird. Einmal werden wir mit einer Ganzsicht konfrontiert, die deshalb beeindruckend ist, weil die Beobachterperspektive sich umkehrt und man sich von oben herab betrachtet sieht – diese, ja, gestehen wir es zögerlich: diese Tierpräparate haben Blicke, und selbst in Irmers feuchter Pinselhandschrift wird das Starren deutlich, mit dem unsere naturkundliche Neugier hochmütig beantwortet wird. Ein leichter Wechsel in der Komposition des nächsten Bildes verändert den Betrachterwinkel noch einmal. Wir sind in die Hocke gegangen und befinden uns beinahe schon auf Augenhöhe mit den Vogelfüßen, die auf Podesten angebracht sind und in ihrer gestreckten Stellung wie elegante Damenbeine in einer Strumpfhosenwerbung anmuten. Auch den Küken wird ein eigenes Podest zugestanden; Irmer hält dies in zwei Detailzeichnungen fest, die ebenso rührend wie komisch wirken, so als würde nämlich schon dem Nachwuchs die Repräsentationsfähigkeit zugestanden, für eine Spezies einzutreten, d.h. diese exemplarisch zu vertreten.
Aus der Berliner Sammlung stammt dann Irmers großformatiges Gemälde von Störchen, die ähnlich langbeinig und selbstbewusst die Vitrine bevölkern wie die Straußenfamilie, nur ist der Glaskasten in diesem Fall frontal auf den Betrachter ausgerichtet und erscheint mit seinem Holzkreuz wie ein Fenster, durch das der Blickaustausch stattfinden kann. Die Beobachtersituation ist dabei vollkommen verunklärt; so fragt man sich, auf welcher Seite wir eigentlich stehen. Es rückt in den Bereich der Möglichkeit, dass das bunte Federvieh, das uns aufgeregt ins Visier nimmt, am Ende uns eingeschlossen im Museum zurücklässt und nicht umgekehrt - dass wir es sind, die ins Visier genommen werden, scheint jedenfalls ohne Zweifel zu sein. Irmer macht deutlich, dass die Situation einer gewissen Komik nicht entbehrt, die sich nicht zuletzt im stark buntfarbigen Federkleid ausdrückt, mit dem die gestelzten Vögel wie ausstaffiert wirken. Sie geben sich den Anschein, als ob sie sich jede Menge zu sagen haben angesichts der naturkundlich Interessierten, die ihren Kasten umstehen, ja, es mutet ihnen ein gelehrtes Gehabe an ähnlich den Käuzen und Eulen, denen Irmer ein anderes Gemälde gewidmet hat.
Dieses ist ein erneutes Bravourstück der Farbmalerei, nur in gedeckteren Tönen als den buntfarbigen der Storchenvitrine, wenngleich mit gleichem sattem Pinselstrich. Die Federn laufen zuweilen in weichen Wischern aus, denen die Feuchtigkeit der Farbe noch eingeschrieben ist, und es tauchen neben den Podesten Beschriftungsfelder auf, die der Klassifikation dienen, aber in einer Untergruppe des Irmerschen Werkkomplexes einen eigenen Stellenwert erhalten werden. Eines der Podeste ist gekippt, und durch die eintretende Neigung entsteht der Eindruck, dass sich das Käuzchen an seinen Nachbarn anlehnt und für einen Moment entspannt seine Augen schließt. Das Detail wird erneut mit verhaltener Komik präsentiert – hier kann man tatsächlich behaupten, einem Kauz zu begegnen, vor allem, wenn man die dazugehörigen Zeichnungen kennt, in denen noch weitere sonderbare Exemplare zu ihrem Recht kommen. In einer großartigen Zusammenschau aller schlanken Eulen und dicken Käuze – denn das ist tatsächlich das Unterscheidungsmerkmal in der deutschen Klassifikation zwischen Eule und Kauz – werden Bleistift und Feder eingesetzt, um jedes Detail und vor allem auch jede Physiognomie festzuhalten.

4 Farbe

Alle bislang besprochenen Tiere haben ihren Ort in Gläsern mit Flüssigkeiten, in Folien, in Glasvitrinen, und ich wage einen Vergleich: In Hitchcocks berühmter Eingangssequenz seiner „Vögel“ werden die Bewohner des Luftraums in Käfigen gehalten. Die Handlung des Films erinnert zunächst an eine triviale Liebesgeschichte: Melanie Daniels (Tippi Hedren), die wohlhabende und sowohl für ihren ausschweifenden Lebensstil als auch für ihre ausgefallenen Späße bekannte Tochter eines Zeitungsverlegers, trifft in einer Vogelhandlung in San Francisco auf den Anwalt Mitch Brenner (Rod Taylor), der seiner Schwester ein Paar grüner Sperlingspapageien (engl. love birds) kaufen möchte. Melanie gibt sich als Verkäuferin aus, jedoch stellt sich am Ende der Szene heraus, dass Mitch ihr Spiel nur zum Schein mitgespielt hat, da ihm ihre Identität von Anfang an bekannt war:

  • „What is it you’re looking for?“
  • „Lovebirds.“
  • „Lovebirds, Sir?“
  • „Yes, I understand there are different varieties. Is that true?“
  • „Well, yes, there are.“ (…)
  • „Aren’t those lovebirds?“
  • „No. Those are, uh… red birds.“
  • „Oh, I thought they were strawberry finches.“
  • „Yes. We call them that, too. – Here we are. Lovebirds.“
  • „Those are canaries. – Doesn’t this make you feel awful?“
  • „Doesn’t what make me feel awful?“
  • „Having all these poor, innocent creatures caged up like this?“
  • „Well, we can’t just let them fly around the shop, you know.“
  • „No, I suppose not. - Is there an ornithological reason for keeping them in separate cages?“
  • „Well certainly. It’s to protect the species.“
  • „Yes, I suppose that’s important.“
    Unterschwellig klingt an, was bald Thema des Films sein wird: die Selbstbefreiung der domestizierten und zur Schau gestellten Vögel aus den Käfigen; die Entfesselung der Fauna, die allen Versuchen zum Trotz, sie zu ordnen und zu klassifizieren, zum großen wutentbrannten Gegenschlag ausholt. In der Eingangssequenz wird aber auch deutlich, warum der weitere Verlauf des Films besonders unheimlich sein wird – gelten Vögel in der allgemeinen Symbolsprache doch als Sinnbild für die seelisch-geistige Lebenssphäre des Menschen und nicht als Protagonisten einer sinnlosen Zerstörung: „Die Vögel als beschwingte Wesen sind seit alters Sinnbilder oder Symbole des Geistes und des Gedankens“ , fasst Jung in seinen „Gedanken zur Alchimie“ zusammen und meint damit auch die Vorstellung, dass Vögel, die sich in der Luft aufhalten, die Fähigkeiten des Menschen darstellen, sich in seinen Gedanken vieles vorzusagen und zu bestimmen, was er in sich erwogen hat, ehe er all dies in ein offenkundiges Werk umsetzt. Sogesehen kennen wir Vögel als Sinnbild für das kreative Potential und die Beschwingtheit der Gedanken, verkörpert durch die visuelle Schönheit ihres bunten, oftmals schillernden Federkleids und ihre Fähigkeit zum Fliegen. Auch in Hitchcocks Eingangsszene war der anmutige und dekorative Charakter der Vögel deutlich geworden, denn die unterschiedlichen Spezies waren nach Farben geordnet: rote Strawberry Finches befinden sich neben gelben Kanarienvögeln und den grün-blauen Sperlingspapageien. Als einer der Gründe für die Haltung und Trennung in Käfigen war die Erhaltung der Spezies – der Schutz der Arten - angegeben worden, und der Blick, den die Kamera in das Zoofachgeschäft wirft, zeigt, wie das Gebot der Reinhaltung eine Sortierung der Vögel nicht nur nach Sorten, sondern nach den verschiedensten Farbtönen vornimmt: Sie sitzen in ihren Käfigen aneinandergereiht wie die Töpfe eines Aquarellkastens.
    Irmer hat sich den ordnenden Duktus zu eigen gemacht und jene Podeste und Beschriftungsfelder, die der Zuschreibung und Klassifikation dienen, zum Vorwand für ein reines color field painting genommen. Hier setzt sich ihre Ausbildung am Hunter College, New York, durch, in der das Erbe des abstrakten Expressionismus in homogen gefüllten Farbflächen zum Tragen kommt, die die spezifische Medialität der Malerei betonen – Malerei als Farbfeld, nichts weiter. Noch immer sind es in Glaskästen aufgereihte Vogelpräparate, die ihr als Ausgangspunkt dienen, aber anders als in den Bilderserien zu Störchen, Sträußen und Eulen verblasst die Kraft der Narration angesichts der buntfarbigen Vielfalt, mit der hier die Spezies ‚Fink‘ vorgestellt werden soll. Das Szenario hat Irmer in Wien vorgefunden, aber das ist nicht sonderlich wichtig angesichts des hohen Grades an Abstraktion, den sie in diesen Werken vornimmt. Sie greift die gleichmäßige Reihung auf, in der die Gattung präsentiert und durchdekliniert wird, um sie im weiteren in eine Deklination von Farbflächen zu überführen. Die Podeste werden zu Blöcken, die mit satten Pinselstrichen gefüllt werden; die Äste, auf denen die Finken unbeschwert turnen, zu flüssigen Farbschwüngen; die ausgebreiteten Schwingen und das Gefieder zu dicken Farbtupfern und -klecksen, die vor den sandfarbenen Stufen des musealen Schaukastens wie Edelsteine aufleuchten. In drei kleineren Studien, die während eines Aufenthalts in der naturkundlichen Sammlung in Gotha entstanden sind, wird jenes edelsteinartige Aufleuchten des Gefieders zum Thema per se gemacht. Hier ist die Ordnung scheinbar in Unordnung zerfallen, und die Ausschnitthaftigkeit der Bildfelder ermöglicht es der Malerin, gestisch zu arbeiten, mit dem Pinsel zu wischen und Formen auseinanderdriften zu lassen, die sich erst mit zunehmendem Abstand des Betrachters wieder zu einer Figur, einer Figuration zusammensetzen.

5 Stecknadeln

Kommen wir nun zu den Zeichnungen, die in Irmers Werk einen besonderen Stellenwert haben, und damit zu einer medialen Zuspitzung im buchstäblichen Sinne. Zu sehen sind die struppigen Federbüschel der Eulen und Käuze, davon ist schon gesprochen worden, deren physiognomische Mimik fast lachhaft ähnlich in einigen gezeichneten Affengesichtern wieder auftaucht. Eine weitere Bilderserie aber zeigt Käfer, deren Chitinkörper mit Nadeln in Kästen fixiert wurden. Die Koleopterologie oder Käferkunde hat einen Aufbewahrungsmodus entwickelt, der mit Stichen arbeitet, und Irmers spitzer Bleistift antwortet mit jedem Strich auf den feingliedrigen Aufbau der harten Skelettkörper, die zerbrechlichen Fühler und Beine sowie auf die Art der Fixierung – durch die Nadel, den Stich. Tatsächlich wird zum Nadeln der Käfer erst einmal gerade auf einen Präparierblock gelegt; dann setzt man mit der Insektennadel in der Mitte des oberen Drittels des rechten Deckflügels an und sticht senkrecht durch den Käfer. Sachgemäß sollte die Nadel zu zwei Dritteln aus der Käferunterseite, das andere Drittel dagegen oben herausragen, und so werden sie uns auch präsentiert – teilweise fast in der Luft schwebend, doch mit eifrigen Schritten, als wären sie allesamt noch im Laufen begriffen. Das Papier entwickelt sich so zum Laufsteg, und zuweilen hallt die Bewegung noch nach, nämlich wenn die Käfer in stärkeren und schwächeren Strichen skizziert und so in ihrer Lebendigkeit eingefangen werden. Die Zeichnerin zeigt sich fasziniert von den bizarren Formationen, denn die Käfer machen sich mit ihren Panzern und ausladenden Kopfstücken wie Krieger exotischer oder phantastischer Welten aus, darin nicht zuletzt an Stichwerke von Jacques Callot (1592-1635) erinnernd. Dessen barocke Wimmelbilder haben bekanntlich auch in E.T.A. Hoffmanns Meister Floh Eingang gefunden, und zwar in jener Szene, in der sich die beiden Insektenforscher Jan Swammerdam und Antoni van Leeuwenhoek ein legendäres Duell liefern. Beide Namen sind mit der Geschichte des Sehens eng verbunden, sie zählen zu den Vätern der Mikroskopie. Man kann an dieser Stelle auf Hoffmanns Novelle verweisen, weil die darin angeführten Vergleiche von Fechten, Mikroskopieren und Stechen bzw. Sticheln für Irmers Werkkomplex bedeutungsvoll sind: es geht hier wie dort um das Ausfahren von Instrumenten, als grotesk überspitzte Verlängerungen der Augen und Hände. Der Stift wird zum Äquivalent der Feingliedrigkeit der mikroskopischen Welt, deren Minutien dem unbewaffneten Auge leicht entgehen können. Anders als mit den weichen, von Farbe gesättigten Pinselstrichen, mit denen Irmer der Malerei zum Status einer medialen Selbstreferentialität verhilft, zeigt sie sich als Zeichnerin mit akutem Fingerspitzengefühl, das bis zum Bewusstsein der Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit des Materials gehen kann. Hier sind wir beim Gegenteil der Vorstellung eines liquiden Mediums angekommen, mit dem wir die Malerei assoziiert haben. In der Zeichnung ist der mediale Aufbewahrungsort trocken, die Körper sind dünn und unbiegsam, der Bleistift wird stecknadelspitz hart eingesetzt.

6 Aufstellung

Man hat es ihnen nicht angesehen, aber die Strauße, Störche und Pinguine, die Finken und Käfer, sie alle bildeten eine Prozession toter Tiere. Es war kaum zu bemerken, weil sie sich ungeachtet ihres Status als Trocken- oder Nasspräparat durch eine Lebendigkeit auszeichneten, die sie in erster Linie der Farbe oder allgemeiner, der Materialität des Bildes verdankten. Dass sie sich zu Aufmärschen gruppieren, war aber dennoch unübersehbar gewesen. Noch deutlicher wird dies in einer Werkgruppe, in der Irmer sich Skelette vorgenommen hat, so dass dem Anspruch auf Rehabilitation und Animation der Präparate durch keine Darstellung von Fleisch, Häuten oder Gefieder beigeholfen werden kann. Ein Bild, das quasi als Pendant zu den vielen Vogeldarstellungen in Vitrinen, zum Beispiel den Störchen gelten kann, ist als ‚witness‘ betitelt. Es zeigt erneut jenen Aufbewahrungsort der toten Tiere, der uns bereits vertraut geworden ist, er befindet sich in Berlin und ist an dem hölzernen Kreuz erkennbar, das die Glasscheiben unterteilt und die Schauvitrinen fensterartig wirken lässt. Das Erstaunliche ist, dass auch diese Skelette noch lebendig, ja fast aufgeregt in ihrem nackten Dasein erscheinen. Wann aber, so fragt man sich, wird jener Trennungsstrich aufgetan, der das Lebendige endgültig vom Toten absondert? Die museale Inszenierung hält bis zuletzt an der Vorstellung fest, einer Verständigung der gesamten Fauna über die Artgrenzen hinweg zuzuarbeiten, einer globalisierenden Utopie sozusagen, in der der gesamte Plan der Schöpfung in seiner Vielfalt aufgezeigt wird und für den Betrachter nachhaltig Sinn macht. Angesichts der Skelette verpufft diese Vielfalt jedoch – sie ist an Farben und Formen gebunden, die das interne Gerüst nicht betreffen. Zwei kleine Ölbilder zeigen die Spärlichkeit, mit der ein biologisches Leben letztendlich behaftet sein kann. Irmer bezeichnet sie verhalten als „spirits“, weil sich die ausgestellten Knochen offensichtlich bereits in einem Zwischenbereich befinden, der trotz der Montierung auf hölzernen Podesten nichts mehr mit dem vitalen Potential zu tun hat, das ihre anderen Arbeiten auszeichnet. Die Skelette sind Denkmäler einer reduzierten Lebensform, dem letzten Abglanz davon oder seiner Negativform. Sie sind aber auch Pathosformeln, vergleichbar einer erhobenen Faust, in der die letzte Energie komprimiert steckt, ohne dass sie sich noch entfalten oder differenzieren kann. - Was aber hat dies mit der Aufgabe der Malerei zu tun? Sehr viel, meint man zum Schluss, denn das Sammeln, Präparieren, Konservieren und Aufstellen verläuft parallel zur mimetischen Aufgabe der Malerei, eine zweite Wirklichkeit zu errichten, die ihre eigenen Modalitäten und Medialitäten nicht leugnet.

7 Nachäffen

Der letzte Punkt wird kurz ausfallen, es geht um die Blicke zurück aus dem Bild, und darüber ist bereits geschrieben worden. Zwei Skizzen von Affen jedoch, flüchtig hingeworfen und gleichzeitig den Augenblick präzise arretierend, bilden den Abschluss. Hier tritt ein in Irmers Werk unterschwellig vorhandener anthropologischer Aspekt offen zutage, der zunächst darin besteht zu erkennen, dass die Grunderfahrung jedes Daseins, des animalischen wie des humanen, über das bloß biologische Leben hinausreicht. Nehmen wir die Äffchen zum Beispiel. Dass es sich hierbei noch immer um Präparate handeln soll, ist kaum über Indizien auszumachen. Wie aber kann es geschehen, von einem toten Objekt so herzzerreißend angesehen zu werden? Die Blicke, die uns über den Weg der Malerei erreichen, sind die eindringlichsten, die man je in einer naturhistorischen Sammlung gesehen hat. Ein rein „biologisches“ oder „zoologisches“ Bild dieser Affen kann einen solchen Blicktransfer nicht leisten. Tatsächlich kann eine ganze Prozession toter Tiere, wie sie uns in den Bildern begegnet ist, nur dann in Gang gesetzt werden, wenn wir sie noch einmal in den Kreislauf unserer Lebenswelt aufnehmen und jedem Exemplar seine spezifische Singularität zugestehen. Für eine naturhistorische Museologie ist dieses Unterfangen ganz widersinnig, geht es doch darum, eine Typensammlung zu präsentieren – jedes gezeigte Exemplar soll dabei Eigenschaften aufweisen, die über seine Individualität hinausweisen und es zum Repräsentanten einer größeren Gruppe, ja, einer Gattung machen.
Was Irmer tut, ist definitiv etwas anderes. Sie wählt den Blick von außen zum Motiv und Thema, aber nur, um ihn von einem zoologisch dokumentierenden in einen subjektiv erfahrenden umzumünzen. Jener Zoo halbvergessener Schauobjekte wird für sie zu einem Ort der Begegnung mit einzelnen Individuen, die, lange tot, im Blick des Besuchers einen kurzen Moment der Reanimation erhalten. Dass wir die toten Tiere als lebendige Subjekte erfahren, kann aber nur geschehen, weil wir ihnen Eigenschaften attestieren, die sie mit anderen teilen, und zwar über die zoologischen Gattungsgrenzen hinaus sogar noch mit der menschlichen Lebenswelt. Grundvoraussetzung dafür ist das Bewusstsein, dass die Welt nicht nur uns gegeben, sondern auch von anderen Lebewesen erfahrbar ist – und dieses Bewusstsein von der generellen Teilbarkeit und Mitteilbarkeit der Welt ist Irmers Bildern mitgegeben. Sogesehen sind die Blicke zurück aus dem Bild - wie die der beiden Äffchen beispielsweise, die Irmer in kräftigen Pinselstrichen vor einem diffusen Hintergrund festgehalten hat - die Antwort auf unsere Blicke von außen oder vielleicht sogar unsere eigenen hineingemalten fragenden Blicke.